Werden, Leben und Vergehen der Mosterei Egnach
Von Hansjörg Häberli, Präsident der Obstverwertungsgenossenschaft Egnach (-Horn) von 1970 bis 1992
Hast du einen Raum
Hast du einen Raum, so pflanze einen Baum! Das empfahl die Thurgauer Obrigkeit ihren Bauern zwischen 1850 und 1880. Damit könnten sie den durch den Zusammenbruch des Weinbaues und des Getreidemarktes erfolgten Einkommensverlust kompensieren. Die Reblaus hatte den Weinbau zerstört. Der Getreidepreis brach zusammen, weil die neuartige Eisenbahn billiges Getreide aus dem Ausland ins Land brachte. Die Egnacher Bauern folgten diesem Aufruf und wie…..! Sie wussten auch, was schon die Römer festgestellt hatten: Erdreich und Klima am Bodensee gefallen dem Apfel- und dem Birnbaum ganz besonders gut. Besonders in den Seegemeinden des Oberthurgaus entstand ein Obstbaumwald.
Als das neue Jahrhundert begann, erfreuten die jetzt im besten Alter stehenden Bäume mit reichem Erntesegen. Dessen Verwertung gelang nicht immer gut. Gescheite Köpfe, neben ein paar Bauern waren Lehrer dabei und ein Unternehmer, sahen Mehrwert im gemeinsamen Vorgehen beim Verkauf und der Verarbeitung des Obstes.
Auf ihre Empfehlung schlossen sich die Egnacher Obstbauern zu einer Genossenschaft zusammen. Deren Zweck war die industrielle Obstverarbeitung und der professionelle Verkauf von Obst und Obstprodukten. Die unbeschränkte Nachschusspflicht, die solidarische Haftung eines jeden Mitgliedes, diente der Bank als Sicherheit, anstelle des nicht vorhandenen Eigenkapitals.
Im Jahre 1902 wurden die Genossenschaftsmitglieder stolze Besitzer des stattlichen Mostereigebäudes. Das Schicksal gönnte dem jungen Unternehmen nur eine kurze Freude. Die letzten Takte der Musik zur feierlichen Einweihung waren kaum verklungen, da legte eine Feuersbrunst das gefeierte Werk wieder in Schutt und Asche.
Phönix aus der Asche
Die Asche war noch warm, als die Versammlung der Genossenschafter den Wiederaufbau beschloss. Und noch einmal liessen sie das Fabrikgebäude aufbauen, mit seiner schönen Backsteinfassade, im Stil der um die Jahrhundertwende erstellten Industriebauten. Diese Fassade steht heute noch, fast unverändert. Hinter dieser Fassade hat sich in den folgenden Jahrzehnten viel getan…….
Dem Start folgte eine gute Zeit. DieObstexport- und Mostereigenossenschaft exportierte Egnacher Tafelobst bis nach Berlin und Frankfurt. Die Mostfässchen aus Egnach trugen Saft und Most aus dem Egnach hinaus ins ganze Land. Die grossen Korbflaschen mit Obstbranntwein begleiteten jede Saftlieferung. Die Kellerräume mussten vergrössert werden. Die Fassputzmaschine und die Brennerei legten manche Nachtschicht ein. Egnacher Saft war schön sauer, aber weniger sauer als der damals viel teurere Wein. Apfelwein (Saft) und verdünnter Apfelwein (Most) waren Alltagsgetränk. Und der gesellige Ausklang nach der Turnstunde oder nach der Männerchorprobe ging in unzähligen Wirtschaften landauf landab nicht ohne das Säftli, oder zwei, oder drei…… und wollte der Erste nach Hause aufbrechen, fiel dem zweiten ein, er könnte noch eine Runde Kafi Schnaps spendieren……..
Das Unternehmen blühte, konnte investieren und erfreute die Bauern mit einem guten Preis für ihr Obst. Der Obstzahltag, meistens kurz vor dem Zinstag zu Martini, war in jedem Herbst auch ein gesellschaftliches Ereignis. Da trafen sich die Bauern im Sternen. Sie feierten das Ende der strengsten Jahreszeit und mancher auch das Ende einer finanziellen Durststrecke.
Keine Freude währt ewiglich. Das Rosarot dunkelte. Bier und billiger Importwein wurden immer stärkere Konkurrenz. In der Weltwirtschaftskrise der dreissiger Jahre färbte sich für die Egnacher Mosterei der Himmel schwarz.
Weg mit dem Schnaps
In der grossen Weltwirtschaftskrise brachen die Exportmöglichkeiten zusammen. Die Erträge der immer grösseren Bäume stiegen weiter. Die Turner und Männerchörler konnten sich, wenn überhaupt, höchstens noch ein einziges Säftli leisten. Die Fassputzmaschine stand oft still. Immer mehr Obstwein wurde zu Schnaps gebrannt. Die Obsterlöse der Bauern sanken jedes Jahr. Eine Misere für die Bauern und eine noch grössere für die Volksgesundheit.
Mit dem 1931 angenommenen Alkoholgesetz hoffte man den zu billigen Schnaps aus dem Verkehr ziehen zu können. Mit Bundeshilfe gezielt gefördert werden sollte die alkoholfreie Obstverwertung und die Umstellung auf Tafelobstproduktion. Um alkoholfreien Obstsaft herzustellen, musste die Genossenschaft eine Riesensumme in eine neue Technologie investieren. Sie erwarb dazu eine Fabrikliegenschaft in Steinebrunn und baute sie zu einer modernen Süssmosterei aus.
In der Kasse der Genossenschaft bildete sich jedoch ein grosses Loch. Die Nachschusspflicht der in den Krisenjahren verarmten Egnacher Bauern genügte der Bank nicht mehr als Sicherheit für ihre Kredite. Im Herbst 1936 bürgten die Verwaltungsräte der Genossenschaft persönlich gegenüber der Bank, damit den Lieferanten das bescheidene Obstgeld ausgezahlt werden konnte. Sie nahmen ein grosses Risiko auf sich.
Das Durchhalten lohnte sich. Als ein Jahr später der Krieg ausbrach, änderte sich alles schlagartig.
Kriegswirtschaft
Die Kriegsjahre 1939 – 1945 brachten bessere Absatzverhältnisse. Und neue Herausforderungen für die Genossenschaft. Als Landwirtschaftliche Selbsthilfeorganisation wurde von ihr auch eine tatkräftige Beteiligung an den vom Bundesrat verfügten kriegswirtschaftlichen Massnahmen zur Förderung und Sicherung der Lebensmittelversorgung der Bevölkerung erwartet. An der so genannten Anbauschlacht beteiligte sich auch die Mosti. Eine neue Abteilung versorgte die Mitglieder mit Produktionsmitteln wie Dünger und Werkzeugen und sie vermietete Geräte, die im Ackerbau benötigt wurden. Damit unterstützte sie die Ausdehnung des Getreidebaues. Eine Brotmehlmühle wurde installiert. Sie erleichterte den Getreidebauern die Erfüllung der gesetzlichen Mahlpflicht zur Selbstversorgung mit Backmehl.
Die alkoholfreie Obstverwertung wurde noch wichtiger. Anstatt Most und Schnaps sollten aus den Äpfeln und Birnen gesunde Nahrungsmittel wie zum Beispiel Trockenobst und Obstsaftkonzentrat als Zuckerersatz hergestellt werden. Stark gefördert wurde von den Behörden zudem die Umstellung von Most- auf Tafelobstproduktion die weit in die Nachkriegsjahre hinein weitergeführt wurde.
Der im Landwirtschaftsgesetz von 1953 verankerte Importschutz bot den Obstbauern die Sicherheit für Investitionen in moderne Tafelobstkulturen. Und der in der Nachkriegszeit wachsende Wohlstand der Bevölkerung sorgte für zunehmende Nachfrage nach gutem Tafelobst. Für die Genossenschaft hiess das, in Sortier- und Aufbereitungshallen und Kühllagerräume zu investieren.
Die grössten Investitionsbrocken musste die Genossenschaft infolge der Ausdehnung der Süssmosterei verkraften. Und im Vertrieb von vergorenem Saft und Most hatten die tausenden Holzfässer mehr und mehr ausgedient. Konsumenten, Wirte und Lebensmittelläden bevorzugten die Glasflasche. Mit der Anschaffung zehntausender Flaschen und Flaschenharassen war es noch nicht getan. Pasteurisier- und Flaschenabfüllmaschinen kosteten Unsummen. Dank der durch das Alkoholgesetz gesicherten Verwertung zu kostendeckenden Verarbeitungspreisen generierte das Unternehmen genügend Cashflow um diese grossen Investitionen zu stemmen. Dennoch, als die Mitgliederversammlung wieder einmal einen Kredit für eine Investition von mehreren Millionen genehmigt hatte, erschütterte ein Antrag die Genossenschaft in den Grundfesten.
Zuviel ist zuviel
Der Antragsteller wollte in Anbetracht der immer grösseren Geschäftsrisiken die unbeschränkte Nachschusspflicht aus den Statuten entfernt haben. Dank der guten Ertragslage und hohen erarbeiteten Reserven waren die Banken mit einer Statutenrevision einverstanden. Die Nachschusspflicht wurde auf Fr. 500.- pro Genossenschaftsmitglied begrenzt.
Importschutz und Abnahmegarantie des Alkoholgesetzes führten im Laufe der Jahre zu einem immer stärkeren auseinanderklaffen der produzierten Menge an Mostobst und der Aufnahmefähigkeit des Marktes. Die Folge waren immer höhere Kosten für die Überschussverwertung. Die umliegenden Länder hatten sich vom Krieg erholt und produzierten wieder selbst genügend Lebensmittel. Der Weltmarktpreis für Obstsaftkonzentrat sank Jahr um Jahr und dementsprechend stiegen für die Eigenössische Alkoholverwaltung die Kosten für Exportbeiträge. Auf Bundesebene wurde der politische Wille, diese Kosten im Interesse der Bauern zu tragen immer schwächer, und die Alkoholverwaltung geriet zunehmend unter Druck, gegen die Überproduktion von Mostobst etwas zu unternehmen.
Das tat sie in den 17 Jahren von 1955 bis 1972 auf höchst wirksame Weise. Von der Alkoholverwaltung finanziert, übernahmen so genannte Fällkolonnen mit Traktoren, Seilwinden und grossen Motorsägen ausgerüstete Arbeitsgruppen, den aufwändigsten Teil der Arbeit beim Fällen eines grossen Obstbaumes. Die meisten Bauern waren nur zu gerne bereit, den offiziellen Empfehlungen zu folgen und liessen zehntausende grosse Birnen- und Apfelbäume fällen. Zu dieser Bereitschaft beigetragen haben tiefe Mostobstpreise und noch viel mehr die in der gleichen Zeit aufkommende Mechanisierung der Landwirtschaft. Für Traktoren und ihre angehängten Maschinen waren Obstbäume ein grösseres Hindernis als für die bisher pferdegezogenen, kleineren Geräte.
Die massive Reduktion des Obstbaumbestandes entlastete wie gewünscht die Bundeskasse. Die Landschaft in den Obstregionen veränderte sich und viele Tierarten und Pflanzen verloren ihren Lebensraum. Eine Katastrophe fanden viele, denen Natur und Landschaft am Herzen lag. Die logische Folge eines Sachzwanges, meinten die anderen.
Thurella AG
Die Mosterei verlor mit dem Wegfall eines grossen Teils der Überschussverwertung eine solide und grosse Ertragsquelle. Es ging allen Mostereien so, mit einer Ausnahme. Auch die fünf Thurgauer Genossenschaftsmostereien mussten versuchen die weggefallenen Erträge mit höheren Verkäufen an Obstgetränken zu kompensieren. Der Konsum von Obstgetränken war jedoch rückläufig. Der Kampf um Anteile des kleiner werdenden Marktes äusserst hart. Den Egnachern war es schon kurz nach dem Krieg gelungen, mit der Migros einen grossen und zuverlässigen Abnehmer zu gewinnen. Die Belieferung der Migros war früher jedoch dem Ansehen eines Produzenten abträglich. Die Egnacher hatten es entsprechend schwerer, im anderen Detailhandel und in der Gastronomie Marktanteile zu halten, geschweige denn, neue dazuzugewinnen. Die Mosterei Möhl hatte einen grossen Teil des Marktes, vor allem für vergorenen Obstsaft, schon lange und solid besetzt. Sein Standort im Siedlungsgebiet zwang Möhl schon viel früher, auf den Getränkemarkt zu setzen. Die Bautätigkeit im Siedlungsgebiet hatte den Baumbestand in Möhls Einzugsgebiet schon viel früher reduziert.
Der Marketingzusammenschluss der fünf Thurgauer Genossenschaftsmostereien zur Thurella AG vermochte ihren Niedergang nur noch für eine gewissen Zeit aufzuhalten. Mit dem 1995 erfolgten Beitritt der Schweiz zur WTO (Welthandelsorganisation) durften keine landwirtschaftlichen Produkte mehr vom Staat verbilligt und exportiert werden. Damit fiel die Überschussverwertung mit von der Alkoholverwaltung garantierten Verarbeitungsmargen ganz weg.
Die Zahl der hochstämmigen Mostobstbäume ging, trotz vieler Bemühungen sie zu erhalten, weiter zurück. Inzwischen war in der Landwirtschaft der moderne Tafelobstanbau viel bedeutender geworden als der Mostobstbau. Thurgauer Tafelobst erwarb sich schweizweit einen hervorragenden Ruf und konnte zu kostendeckenden Preisen gut verkauft werden. Moderner Tafelobstbau hiess: Hochprofessionell geführte, relativ grosse und spezialisierte reine Obstbaubetriebe. Das Interesse der bäuerlichen Genossenschafter am Mostereibetrieb und an den angegliederten Nebenbetrieben wie Pflanzenschutz- und Futtermittelhandel, Landmaschinen und Grastrocknerei schwand.
Als in Egnach noch die einzige selbstständige Mosterei - Genossenschaft existierte und grosser Investitionsbedarf anstand, beschlossen die Genossenschafter im Jahr 2002 die Umwandlung ihrer Genossenschaft in eine Aktiengesellschaft. Von da weg spielte im Unternehmen der ursprüngliche Selbsthilfegedanke als Zweck des Betriebes keine Rolle mehr. Reine Finanzinteressen der angeheuerten auswärtigen Grossaktionäre lagen fortan den unternehmerischen Entscheiden zu Grunde. Nach wenigen und erfolglosen Versuchen mit neuen Geschäftsfeldern wurde dem Standort Egnach und dem Geschäftsfeld Obstverwertung die Existenzberechtigung abgesprochen. Seit 2013 wird in Egnach nicht mehr gemostet.
Erhalten geblieben ist ein inzwischen immer wieder vergrösserter Lager- und Verarbeitungs- und Verpackungsbetrieb für Tafelobst aller Arten der Tobi AG mit einem Standort in Egnach, auf einem Areal, das der Obstverwertungsgenossenschaft gehörte. Tobi ist heute schweizweit wahrscheinlich der grösste und modernste derartige Betrieb. Sein Ursprung geht auf die Ausgliederung und Verselbständigung der Tafelobstabteilung der Obstverwertungsgenossenschaft Egnach zurück. Er dient Obstbauern, Konsumenten und Handel auf die gleiche Weise wie in früheren Jahren die Mosterei.
Januar 2022/ Hansjörg Häberli